Design Innovation

Wie man barrierefreie Benutzeroberflächen gestaltet

Ein Smartphone in der Hand mit den Symbolen für Sehen (Auge), Hören (Ohr), Fühlen (Finger) und Einselltungen. Auf schwarzem Hintergrund.

Inhaltsverzeichnis

7 Minuten
Donnerstag, 19.10.2023

Die digitale Welt bietet schier endlose Möglichkeiten für Menschen und Unternehmen. Sie eröffnet Chancen für Wachstum, Skalierung und bietet Zugang zu neuen Informationen und Ideen.

Doch mit unendlichen Möglichkeiten geht auch eine stetig wachsende Verantwortung einher. Nirgendwo wird das so unmittelbar spürbar, wie in der Welt des barrierefreien Designs.

Oft als unüberwindbares Hindernis betrachtet, eröffnet barrierefreies Design eine einzigartige Chance: Hier treffen Kreativität und Inklusivität aufeinander. Jeder Klick, jede Berührung und jeder Wisch auf dem Bildschirm öffnet einen nahtlosen Weg zu einem digitalen Produkt.

Mithilfe von universaler Designsprache können wir die digitale Welt für alle, unabhängig von ihren Fähigkeiten oder Einschränkungen, nutzbar machen.

Ich bin davon überzeugt, dass wir Design für das Gute nutzen können. Es gibt wohl keinen relevanteren Bereich als barrierefreies Design, das eine Brücke zwischen Design und sozialer Verantwortung schlägt. Mit barrierefreiem Design können wir innovative Wege beschreiten, um eine digitalere Welt zu erschaffen, die für alle Menschen zugänglich ist.

In diesem Artikel teile ich:

  • Meine Erfahrungen bei Deutschlands führendem Anbieter von Hör- und Sehlösungen
  • Zentrale Aspekte von Barrierefreiheit
  • Dinge, die Barrierefreiheit im Weg stehen
Eine Illustration, die die Schlüsselprinzipien des barrierefreien Designs grafisch darstellt.

KIND: Meine Arbeit bei Deutschlands führendem Anbieter von Hör-und Sehlösungen

Seit mittlerweile zwei Jahren arbeite ich nun als führende UI-Designerin an der KIND-App. Unsere Zielgruppe hat unterschiedliche Bedürfnisse in Bezug auf Barrierefreiheit, sei es im Hinblick auf das Hören, das Sehen oder die Mobilität. KIND ist in Deutschland ein Pionier im Bereich der Hörakustik. Über 1,5 Millionen Menschen vertrauen auf KIND. Die hohe Kundenzufriedenheit spiegelt die Mitarbeiterleistung und die Produktqualität in den Fachgeschäften wider.

Trotz dieser Erfolge ist Hörverlust immer noch häufig mit Scham und Stigmatisierung behaftet. Es ist ein äußerst sensibles Thema, das viel Vertrauen erfordert. Veränderungen im eigenen Hörvermögen auszudrücken ist nicht einfach, oft fehlen einem dabei die Worte. Zudem drängen immer mehr Unternehmen aus nicht spezialisierten Bereichen wie Apple und Bose auf den Markt und erhöhen somit den Wettbewerbsdruck.

Teil von KINDs Wachstumsstrategie ist die Schaffung eines erstklassigen Omnichannel-Erlebnisses, bei dem sowohl digitale, als auch menschliche Interaktion nahtlos ineinandergreifen. Unser Nutzererlebnis muss deshalb außergewöhnlich sein. Hier setzt KIND an, um seine Vision zu verwirklichen.

Obwohl ich keine Expertin für barrierefreies Design bin, möchte ich gerne teilen, was ich während meiner Arbeit mit KIND und ihren Nutzer:innen gelernt habe, damit alle Unternehmen von den Accessibility-Erkenntnissen profitieren können.

Was ist barrierefreies Design?

Barrierefreies Design, auch als inklusives Design, Accessibility-Design oder universelles Design bekannt, ist ein Ansatz zur Gestaltung von Produkten, Umgebungen und Erlebnissen, die für so viele Menschen wie möglich nutzbar und zugänglich sind, unabhängig von ihren Fähigkeiten, Beeinträchtigungen, dem Alter oder anderen Faktoren. Das Hauptziel besteht darin, sicherzustellen, dass jeder, einschließlich Menschen mit Behinderungen, uneingeschränkt und unabhängig an allen Lebensbereichen teilhaben kann.

Zu den wichtigsten Prinzipien gehören:

  • Chancengleichheit: Das Design sollte für Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten nützlich und zugänglich sein, ohne irgendeine Nutzergruppe zu isolieren oder zu stigmatisieren.
  • Flexibilität: Das Design sollte eine breite Palette individueller Vorlieben und Fähigkeiten berücksichtigen und dabei Optionen und Anpassungsmöglichkeiten bieten, um Aufgaben auf verschiedene Weisen zu bewältigen.
  • Einfache und intuitive Nutzung: Unabhängig von der Nutzererfahrung, dem Wissensstand, den Sprachkenntnissen oder kognitiven Fähigkeiten sollte das Design leicht verständlich und einfach zu bedienen sein.
  • Wahrnehmbare Informationen: Informationen, die durch das Design vermittelt werden, sollten für alle gut wahrnehmbar sein, unabhängig von sensorischen Fähigkeiten (sei es visuell, auditiv oder taktil).
  • Fehlertoleranz: Das Design sollte Gefahren und unerwünschte Folgen von versehentlichen oder unbeabsichtigten Aktionen wie zum Beispiel einem falschen Klick minimieren. Es sollte Nutzer:innen ermöglichen, ihre Fehler leicht zu korrigieren.
  • Geringer physischer Aufwand: Nutzer:innen sollten in der Lage sein, bequem und mit minimalem physischem Aufwand mit dem Design zu interagieren. Das ist besonders wichtig für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen.
  • Größe und Raum: Das Design sollte ausreichend Platz bieten, damit User es effektiv erreichen, nutzen und bedienen können, egal ob sie stehen, sitzen oder Mobilitätshilfen verwenden.
  • Ästhetisches und minimalistisches Design: Obwohl Barrierefreiheit von zentraler Bedeutung ist, sollte das Design ästhetisch ansprechend sein und nicht unnötig komplex sein.

Barrierefreies Design ist in verschiedenen Bereichen des Lebens von großer Relevanz, darunter Architektur (barrierefreie Gebäudekonzepte), Webdesign (nutzerfreundliche Websites für Menschen mit Einschränkungen), Produktdesign (Entwicklung von Produkten, die von allen leicht verwendet werden können) und Mobilität (Zugänglichkeit des öffentlichen Verkehrs für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen).

Es zielt darauf ab, die Teilhabe von Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten sicherzustellen. Gesetze und Standards, wie beispielsweise die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV) tragen zu einer inklusiven Gesellschaft bei, indem sie gleiche Chancen und den Zugang zu Informationen, Dienstleistungen und Räumen für Menschen mit Behinderungen gewährleisten.

Ein Bild, das die Vielfalt der Menschen in verschiedenen Altersgruppen und mit unterschiedlichen Fähigkeiten zeigt, die digitale Produkte nutzen.

So geht barrierefreies Design

Um barrierefrei zur designen, gibt es einige ungeschriebene Regeln. Es mag banal klingen, aber an die Zielgruppe, für die man gestaltet, zu denken ist in diesem Fall essentieller denn je.

Wenn die Benutzer:innen über 50 Jahre alt, oder noch Kinder sind, oder Höreinschränkungen haben, sollten man dies berücksichtigen. Bei der Gestaltung für KIND wurde schnell klar, dass die Benutzergruppe etwas älter ist und die Mehrheit von ihnen mit großer Wahrscheinlichkeit auch eine Brille trägt. Wir mussten uns daher nicht nur mit den Höreinschränkungen auseinandersetzen, sondern auch sicherstellen, dass die Zielgruppe mit der App auf visueller Ebene interagieren kann.

Weitere Faktoren, die berücksichtigt werden müssen:

Farben und Kontrast

Farben sind von entscheidender Bedeutung für das Design und der Kontrast steht hier im Fokus. Designer:innen sollten verschiedene Farbkombinationen ausprobieren und Plugins verwenden, um diese auf Barrierefreiheit zu testen. Figma, eines der beliebtesten Programme für Interface-Design in der heutigen Zeit, bietet großartige Plugins, die Designer:innen dabei unterstützen. Für mich gehört dieser Schritt genauso zum Gestaltungsprozess wie die Verwendung eines Designsystems.

Klare User-Flows

Sie gehören zu den grundlegenden Prinzipien für Designer:innen. Wenn man in einer App oder auf einer Website auf eine Schaltfläche stößt, sollte deren Aufgabe darin bestehen, zu erklären, was passiert, wenn auf diese Schaltfläche geklickt wird. Dadurch werden unerwartete Aktionen vermieden und Benutzergruppen, die nicht mit komplexen digitalen Produkten vertraut sind, weder verwirrt noch desorientiert.

Einfache Sprache

Um Inhalte so klar wie möglich zu gestalten, vermeiden Design-Teams lange Sätze voller Fachjargon und Schlagwörter. Stattdessen verwenden sie eine klare Sprache, damit der Inhalt von jedem leicht verstanden werden kann - unabhängig von Sprache, Alter oder Bildungsniveau.

Barrierefreiheitsfunktionen

Um Aufgaben barrierefrei zu erledigen, greifen Menschen auf verschiedenste Hilfsmittel und Funktionen zurück. Einige User setzen zum Beispiel auf die in Smartphones integrierte Vorlese-Funktion (”Screenreader”), die den Inhalt auf dem Screen laut vorlesen. Design-Teams können diese Nutzergruppe unterstützen, indem sie Beschreibungen und Alternativtexte für Bilder hinzufügen, um den Inhalt so zugänglicher und inklusiver zu gestalten.

Anpassungsoptionen

Für eine ideale User Experience sollten die Zielgruppe Optionen zum personalisieren haben. Dazu gehören Funktionen wie die individuelle Anpassung von Kontrasteinstellungen, Schriftgrößen oder die Verwendung des “Dark Modes”, einer Art Nachtmodus für eine Anwendung, zur Verbesserung der Lesbarkeit.

Optimierung für verschiedene Fähigkeiten

Es ist zentral, dass interaktive Elemente wie Schaltflächen, zum Beispiel Buttons, eine angemessene Größe haben. So können Menschen mit motorischen Einschränkungen die Elemente leicht verwenden und es werden unerwünschte Interaktionen vermieden.

Strategische Platzierung der Elemente

Um wichtige Funktionen optimal und leicht erreichbar zu positionieren, wird jedes Element auf dem Bildschirm sorgfältig überdacht. Besonders bei den heutzutage immer größer werdenden Bildschirmen ist das wichtig. Ich denke hier zum Beispiel an die Platzierung von wichtigen Klickflächen, die innerhalb der Erreichbarkeit des Daumens auf Mobilgeräten liegen sollte.

Erlerntes Nutzerverhalten beachten

Oft lassen sich Designer:innen von Verhaltensweisen inspirieren, an die Menschen von Smartphones gewöhnt sind. Zum Beispiel führt auf iOS-Geräten das Wischen von links nach rechts in der Regel dazu, eine Seite zurück zu gelangen. Auch wenn es nicht zwingend erforderlich, kann das Berücksichtigen vertrauter Gesten das allgemeine Benutzererlebnis optimieren.

Dinge, die Barrierefreiheit im Weg stehen

Die größte Challenge bei der Entwicklung barrierefreier Produkte? Für mich ist es, die Balance zwischen Ästhetik und Zugänglichkeit zu finden. Dazu braucht es sowohl tiefes Verständnis über vielfältige Nutzerbedürfnisse als auch das Wissen, wie man diesen Balanceakt gekonnt meistert.

Manchmal können Entscheidungen zugunsten von Barrierefreiheit, wie das Berücksichtigen von ausreichend großen Texten, oder ein kontrastreiche Farbkombinationen, dem Streben nach einem elegantem und visuell ansprechendem Design entgegenstehen.

Hier müssen Designer:innen oft Kompromisse eingehen, wenn sie Inklusivität priorisieren. Zum Glück ist diese Herausforderung nicht unüberwindbar. Universeller Designprinzipien, Usertests und Feedback von Personen mit Einschränkungen ermöglichen es, digitale Produkte zu gestalten, die gleichermaßen schön und barrierefrei sind. Das Ergebnis? Eine inklusivere und angenehmere Benutzererfahrung für alle.

Durch die steigende Nachfrage nach barrierefreien, kommen immer mehr Tools auf den Markt, um Lösungen für diese Herausforderung zu finden und zu vertesten. Meine persönliche Empfehlung ist das Figma-Plugin "Stark Accessibility Tool", um eigene Designs zu überprüfen. Mit dem Plugin können Farbkontraste überprüft und unterschiedliche visuelle Einschränkungen zu simmuliert werden. Es hat aber noch weitere hilfreiche Funktionen, die auf dem Weg zu barrierefreien Designs unterstützen können.

Eine weitere Methode besteht darin, den Screenreader oder die Schriftskalierungsfunktion (”Font Scaling”) auf dem eigenen Telefon zu aktivieren. Ich nutze das zum Beispiel, um nachzuvollziehen, wie Nutzer:innen das KIND-Produkt erleben, wenn sie diese Funktioner auf ihrem Handy aktiviert haben.

Ende Frau untersucht die verschiedenen Ebene von barrierefreiem Design.

Warum sollte man in Barrierefreiheit investieren?

Die Antwort ist einfach: Barrierefreie digitale Produkte sind nicht nur moralisch wichtig, sondern bieten auch klare Business-Vorteile für Unternehmen.

Genauso wie Nachhaltigkeit (nach innen und außen gerichtet) gehört die Barrierefreiheit zu den gesellschaftsübergreifend wichtigen Aspekten, die beachtet werden sollten. Die Verpflichtung zur Barrierefreiheit im digitalen Raum bringt nämlich nicht nur einen moralischen, sondern auch geschäftlichen Nutzen.

Es gibt zwingende Gründen für Organisationen, in Barrierefreiheit zu investieren, und diese Gründe werden durch die gesetzlichen Anforderungen in Deutschland noch verstärkt. Ministerien und Behörden verlangen zunehmend barrierefreie Produkte, wodurch diese immer mehr zum Standard im ganzen Land werden. Aber selbst ohne gesetzliche Vorgaben ist der überzeugendste Grund für Barrierefreiheit das Nutzererlebnis: Ein digitales Produkt ist nicht allein das Ergebnis der Ideen von Design-Teams. Es erwacht erst durch die Nutzergruppe, die es verwendet zum Leben.

Wenig überzeugt mehr als konkrete Erkenntnisse und echtes Feedback aus Nutzertests. In jedem Projekt stehen uns außerdem Benutzerdaten zur Verfügung um zu sehen, wie viele Menschen zum Beispiel einen Vorgang abbrechen und wie lange sie sich auf einem Bildschirm aufhalten.

Es hilft auch, Informationen darüber zu sammeln, wie viele Menschen die Schriftgröße auf ihrem Smartphone angepasst haben, oder andere Bedienungshilfen verwenden. Die Auswertung dieser Daten verbessert nicht nur die Barrierefreiheit des Produkts, sondern das gesamte Nutzungserlebnis.

Um ein Beispiel zu nennen: Bei KIND haben wir festgestellt, dass viele unserer Nutzer:innen die Option der Schriftskalierung nutzen. Ein Indiz dafür, dass sie den auf dem Bildschirm dargestellten Text schwer lesbar war. Das war ein deutliches Argument dafür, größere Schriftgrößen zu verwenden. Wir passten also bereits existierende Designelemente an. Wir simulierten außerdem auch unterschiedliche Skalierungsstufen auf verschiedenen Smartphones und definierten anhand der Ergebnisse gewisse Regeln für diese Stufen. Mit diesen Regeln konnten wir die Darstellung innerhalb der Skalierungsstufen optimieren und so ein besseres Nutzererlebnis garantieren. Es kam Beispielsweise bei hohen Schriftskalierungen vor, dass die Schriften in Buttons umbrachen und nicht nur das gesamte visuelle Erscheinungsbild darunter litt, sondern die Texte auch nicht mehr lesbar waren.

Investitionen in Barrierefreiheit fördern also nicht nur die Inklusivität, sondern passen auch zu einer fundierten Geschäftsstrategie und einer nutzerzentrierten Produktentwicklung. Wenn unsere Produkte einfach und angenehm zu verwenden sind steigert das die Bindung und Loyalität unserer Kund:innen. Barrierefreies Design ist wirklich eine Win-Win-Situation für alle.


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Verfasst von: Charlott Feibig

Charlott ist seit 2017 ein fester Bestandteil unseres Teams. Als Senior-UI-Designerin ist sie für den B2C-Bereich von KIND verantwortlich. Neben dem Screendesign der App betreut sie auch die allgemeine Designsprache der KIND Produkte und sorgt für einen konsistenten Markenauftritt. Mit ihrem Hintergrund als Kommunikationsdesignerin verfügt sie über ein breites Wissen an Gestaltungsmöglichkeiten und Accessibility Design. Diese setzt sie nicht nur für ihre Kund:innen lösungsorientiert ein, sondern auch für die Weiterentwicklung der DAYONE-Brand Identity.

Charlott
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